In den Gipfelregionen des Nationalparks Hohe Tauern sind die Winter lange und hart. Die Kälte und das geringe Nahrungsangebot machen Tieren zu schaffen. Zu viele Störungen können das sensible Gleichgewicht, das es zum Überleben braucht, rasch durcheinanderbringen.
Es ist ein bisschen so, als ob Fremde ohne Vorwarnung durch ihr Wohnzimmer laufen: Wenn wir als Wanderer oder Skitourengeher in den Bergen unterwegs sind, gehen wir mitten durch die Lebensräume von Wildtieren.
Wir stören ihre Schlafplätze, schrecken sie an ihren Futterstellen auf oder beunruhigen sie durch unsere Nähe. Meist fällt uns das gar nicht auf, weil sich viele Tiere zurückziehen oder lange ihrer Deckung oder Tarnfarbe vertrauen. Trotzdem ist Vorsicht geboten: Zu viele Störungen können Gams, Auerwild und Co in der kalten Jahreszeit aber das Leben kosten. „Der Organismus von Wildtieren ist darauf ausgelegt, im Winter mit möglichst wenig Energie auszukommen. Jede Störung bedeutet zusätzlichen Energieverbrauch“, bringt der Biologe Gunter Greßmann das Problem auf den Punkt. Er ist beim Nationalpark Hohe Tauern in Osttirol für Naturraummanagement verantwortlich.
Flucht kostet Energie.
Wenn eine Gams die Flucht ergreift oder ein Schneehuhn auffliegt, ist die Störung für uns Menschen offensichtlich. Doch Störungen beginnen eigentlich schon dann, wenn ein Tier sein Verhalten ändert. Wenn es sich beispielsweise weniger auf die Nahrungssuche konzentrieren kann, sondern eher darauf achtet, ob jemand näher kommt. Studien im Sommer haben beispielsweise gezeigt, dass Gämsen in einigen Gebieten mit einem dichten, viel begangenen Wanderwegenetz zwar nicht mehr flüchteten. Allerdings hatten sie durch oftmaliges Sichern eine schlechtere körperliche Kondition, was über Jahre gesehen zu durchschnittlich geringeren Nachwuchsraten führte. Um wie viel größer sind die Auswirkungen von Störungen im Winter, wo gerade in den höheren Regionen des Nationalparks Hohe Tauern extrem lebensfeindliche Bedingungen herrschen und Tiere und Pflanzen spezielle Überlebensstrategien entwickelt haben?
Vielfältige Überlebensstrategien
Viele Tiere überdauern die kalten Monate im Winterschlaf. Das Murmeltier verschwindet spätestens im Oktober mit einem ordentlichen Fettpolster in seine gut ausgepolsterten Baue und kommt erst wieder an die Oberfläche, wenn die Tage wieder länger werden und das Nahrungsangebot besser wird. Andere Tiere haben ausgeklügelte Energiesparstrategien entwickelt, um draußen zu überleben. Einige Arten – wie Steinböcke oder Gämsen – senken zumindest temporär ihre Herzfrequenz und in manchen Körperbereichen ihre Temperatur ab, um dadurch den Energieverbrauch zu senken und so auf das geringere Nahrungsangebot zu reagieren. Störungen bringen dieses sensible Gleichgewicht durcheinander – der Energiehaushalt kann nicht mehr ausgeglichen werden, weil es zu wenig Futter gibt. Besonders schlechte Karten haben beispielsweise Raufußhühner wie das Schneehuhn. Ihnen ist es allein schon aufgrund der Körpergröße nicht möglich, größere Reserven anzulegen.
Gut isolierte Schneehöhlen
Birk und Schneehühner graben sich oft in den Schnee ein oder lassen sich einschneien, um gut isolierte Schlafplätze zu haben. Auf der Suche nach Nahrung kommen sie aus ihren Schneeverstecken. Kommt jemand zu nahe, durchbrechen die Hühnervögel die Schneedecke und fliegen in Panik auf. Sie legen dabei Strecken von bis zu 400 Metern zurück. „Wenn ein Birkhuhn im Verlauf eines Tages drei oder vier Mal auffliegen muss, kann das rasch an die Existenzgrenze gehen“, weiß auch Birgit Kantner, die sich beim Österreichischen Alpenverein um das Thema Naturraummanagement kümmert. Sie appelliert deshalb an alle, die im Winter in der Natur unterwegs sind, Rücksicht auf die Tierwelt im Energiesparmodus zu nehmen. So sollte man, auch wenn ein unberührter Hang noch so verlockend ist, nicht Spur um Spur nebeneinander setzen, sondern ein engeres Gebiet befahren. So ist jener Lebensraum, der gestört wird, kleiner.
Konstanz beruhigt
Störungen können ganz unterschiedlich sein – und werden auch von jeder Tierart anders wahrgenommen. Wird ein Weg regelmäßig begangen, kann das bei einigen Wildtierarten zu einer gewissen Gewöhnung und damit zu weniger Beunruhigung führen. Auch Gruppenzusammensetzung, Alter und Geschlecht spielen eine Rolle. Geißen mit Kitzen reagieren oft anders auf Beunruhigungen als männliche Tiere. Dennoch: Im tiefen Schnee zu laufen, braucht Kraft. „Zwischen Gehen und Flucht erhöht sich der Energieverbrauch bei einer Gämse um das Drei bis Vierfache“, erläutert Greßmann. Liegt der Schnee 50 Zentimeter hoch, dann heißt das noch einmal drei Mal mehr Energieverbrauch als beispielsweise bei nur 25 Zentimetern.
Im Sommer für den Winter vorbauen
Die Frage, ob ein Tier gute Chancen hat, den Winter zu überleben oder nicht, entscheidet sich aber schon lange vor dem ersten Schneefall. Die Tiere beginnen sich schon im Sommer auf die kargen Wintermonate vorzubereiten. Sobald die Strapazen des vorangegangenen Winters vorbei sind, die fehlende Substanz aufgefüllt ist und die weiblichen Tiere ihre Kitze ausgetragen, gesetzt und in den ersten Wochen mit Milch versorgt haben beginnen sich beispielsweise Gams und Steinwild bereits Fettreserven anzufressen und ab Mitte/Ende August langsam den Stoffwechsel herunterzufahren. Gelingt es nicht, genügend Reserven aufzubauen, kann es im Winter rasch eng werden. Der Klimawandel hat auch da seine Auswirkungen. Die Vegetationsperiode beginnt durch die wärmeren Temperaturen zwar früher, aber gleichzeitig nimmt die Qualität des Futters im Jahresverlauf rascher ab. Der heurige trockene Sommer hat zumindest regional zusätzlich zu einer Verschlechterung der Nahrungsqualität geführt. Was also soll man tun, wenn man im Winter gerne im Nationalpark Hohe Tauern unterwegs ist? Rücksichtnahme ist für Birgit Kantner der Schlüssel: „Man sollte ausgewiesene Ruhezonen respektieren und Wildeinstandsbereiche meiden.“ Wer dann die Dämmerung meidet, leise ist, Hunde an die Leine nimmt und als Gruppe nicht großflächig Abfahrtsspuren nebeneinander legt, hat schon viel für ein gutes Miteinander getan.