Die Dämmerungstour lässt unser Herz höherschlagen. Endlose Einsamkeit, idyllischer Sonnenuntergang, beflügelndes Abenteuer. Kontrollierte Abfahrt durch kräftezehrenden Tiefschnee. Gewissheit bald wieder ins Warme zu kommen. Genüsslich einen Energieriegel zwischen die Zähne schieben. Auffüllen der verbrauchten Energiereserven nach der anstrengenden Skitour. Womöglich eine deftige Brotzeit?
Der vorbeistapfende Mensch lässt unser Herz höherschlagen. Fehlende Ruhe, gestörte Nahrungsaufnahme, lebensgefährlicher Alltag. Unkontrollierte Flucht durch kräftezehrenden Tiefschnee. Gewissheit, dass eine lange Winternacht bevorsteht. Hektisch das karge Futter unter dem Schnee suchen. Kein Auffüllen der verbrauchten Energiereserven nach der anstrengenden Flucht. Womöglich eine folgenschwere Notzeit!
Herr Gamsbock: Puh, wo soll ich da anfangen. Es wird immer komplexer mit euch Menschen. Man kann sich auf nichts mehr verlassen. Die Suche nach Einsamkeit, frischem Pulverschnee sowie lange Arbeitstage und moderne Ausrüstung bewegen euch Zweibeiner zu Nachtskitouren und großflächigem Begehen und Befahren des ganzen Naturraums. Wenn rund um die Uhr Menschen durch unsere Wohnung stapfen, finden wir Wildtiere immer weniger Rückzugsräume sowie Zeit zur Nahrungsaufnahme.
E: Frau Schneehenne, was sagen Sie dazu? Übertreibt Herr Gams nicht ein wenig?
Frau Schneehenne: Nein! Ganz und gar nicht. Besonders für uns Schneehühner können bereits wenige Störungen während der Nahrungsaufnahme wirklich schwerwiegende, auch tödliche, Folgen haben. Schließlich können wir kaum Fettreserven anlegen.
Herr Rothirsch: Da kann ich nur zustimmen. Wenn Sie einmal auch nur einen Tag an einer Stelle ausharren würden, könnten Sie sehen, was hier oft für ein Treiben herrscht. Die ersten Sportler:innen
kommen noch in der Dunkelheit durch unser Schlafzimmer gestapft. Beim Frühstück spaziert seit ein paar Tagen immer dieser Fotograf am Rückweg vom Sonnenaufgangs-Shooting durch unser Esszimmer. Gerade erst gestern Abend wieder eine dieser schrecklichen Drohnen. Nicht mal beim Abendessen hat man mehr Privatsphäre - dafür jedes Mal fast einen Herzinfarkt.
Frau Schneehenne: Ganz genau. Die Summe all dieser einzelnen Störungen kann für uns Wildtiere lebensgefährlich sein. Jede vermiedene Störung ist lebensentscheidend. In manchen Gebieten wird in unserer Unfallstatistik die „Summe an Fluchten während eines Winters“ schon als Todesursache Nummer eins geführt.
E: Jetzt habe ich wirklich ein schlechtes Gewissen...
Herr Gams: Ein schlechtes Gewissen oder ein „au weh, das ist mir jetzt unangenehm“ allein angesichts eines in Panik flüchtenden Tieres hilft uns gar nichts. Ihr könnt euch aussuchen, wo und wann ihr euch freiwillig in unserem winterlichen Lebensraum aufhaltet. Wir sind hier zu Hause. Tag und Nacht. Tagein, tagaus. Ihr nicht. Ihr seid dann wieder weg, flüchtet ohne Panik vor der Kälte in euren beheizten Wohnraum.
E: Darüber sind sich viele Naturfreunde sicher nicht bewusst! Und was können wir Menschen tun, um Ihnen das (Über)leben leichter zu machen?
Frau Schneehenne: Da muss ich etwas ausholen. Die Dämmerungsstunden sind für die uns Wildtiere besonders wichtig. Mit Dämmerungsstunden meine ich übrigens die Stunde nach Sonnenaufgang sowie die Stunde vor Sonnenuntergang.
Herr Rothirsch: Viele von uns sind besonders in der Dämmerung aktiv. Aktiv sein heißt: Stehen, äsen und fortbewegen. Wir wie auch mein entfernter Verwandter, das Rehwild, reagieren wesentlich sensibler in Zeiten hoher Aktivität – also in den Dämmerungszeiten.
Frau Schneehenne: Apropos Nahrung: Um keine unnötigen Risiken einzugehen oder sinnlos Energie zu verbrauchen, verfolgen wir im Winter die Strategie der kurzen Wege. Latschen- bzw. Grünerlenfelder sowie lockere Baumgruppen bieten uns Nahrung und Deckung auf kleinstem Raum. Nahrung finden wir aber auch auf abgeblasenen, schneefreien Rücken und Graten.
Frau Steingeiß: Wenn ich dich kurz unterbrechen darf… Auch für uns sind abgeblasene, schneefreie Rücken und Grate wichtige Fressplätze. Übrigens: Die ausgewiesenen Schutzzonen stellen besonders wichtige Rückzugs- und Lebensräume für uns Wildtiere dar. Unter Bergwelt Tirol, outdooractive.com oder alpenvereinaktiv könnt ihr euch über Wald- und Wildschutzzonen informieren.
E: Das scheint mir Alles sehr einleuchtend. Aber wenn ich ehrlich bin, sehe ich sowieso selten ein Wildtier auf meinen Touren. Ich denke also nicht, dass ich eine große Störschleppe hinter mir herziehe...
Frau Schneehenne: Moment mal. Ich sehe Euch Tourengeher:innen in meiner Schneehöhle ja auch nicht – und doch jagt ihr mir jedes Mal Todesangst ein. Ein klarer Beweis, dass wir viel nicht sehen können, was aber doch da ist. Worauf ich hinaus will: Auch ihr könnt uns, wenn wir unter dem Schnee Schutz vor Wind und Kälte suchen, nicht wahrnehmen. Doch auch wenn wir nicht in unserer Schneehöhle sind, nimmt uns kaum einer von euch wahr. So unachtsam, rücksichtslos und wortwörtlich zielstrebig, wie ihr oft unterwegs seid, frage ich mich, ob ihr überhaupt etwas um euch herum wahrnehmt. Oft ziehen wir uns unbemerkt zurück, wenn ihr näher kommt. Manchmal erblickt ihr uns, wenn wir flüchten. Doch auch wenn wir nicht flüchten und scheinbar unbeeindruckt eure Anwesenheit ertragen – unser Körper stellt sich auf eine Flucht ein und unser Energieumsatz erhöht sich stark.
E: Vielen Dank für die interessanten Einblicke sowie Ihre wertvolle Energie und Zeit.
Herr Gamsbock: Eine Anmerkung noch. Jede unnötige Störung ist eine zu viel. Erfolgt der Aufstieg auf bestimmten, regelmäßig begangenen Routen, ist der Effekt für uns Tiere mit Bewegungen auf einem Weg, einer Loipe oder auf einer Straße vergleichbar. Skitouren „kreuz und quer“ haben deutlich größere Auswirkungen auf uns, da euer Verhalten für uns unkalkulierbar ist. „Kreuz und quer“ laufende Hunde deutlich größere Auswirkungen als Hunde an der Leine. Lasst uns die Bergwelt Tirols miteinander erleben!
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